Das weiße Blatt

Ich weiß es noch gut: Als die Produktion Papier.Krieg entstand, war ich überzeugt davon, das Stück nicht vor einem ausschließlich jugendlichen Publikum spielen zu können. Als es dann trotzdem geschah (und gelang), war ich selbst überrascht. Und habe mich gefragt, wieso das funktioniert hat (s. Post vom 31.1.13 'Weitermachen!' und vom 5.4.13 'Was ist Graubrot?'). Inzwischen ist ein gutes Dutzend Schulaufführungen über die Bühne gegangen. Und ich rätsle nach wie vor, wieso ich mich anfangs dermaßen getäuscht habe.
Papier.Krieg  arbeitet mit Resonanzen, mit Redensarten, Geräuschen, zeittypischen Erlebnissen und Lebenshaltungen. Resonanz, so meinte ich, entsteht aufgrund von gemeinsamer und geteilter Erfahrung: Wer das Geräusch von Sauerstoff im Tropf nicht kennt, hört auf der Bühne nur ein Wasserblubbern. Dachte ich. Und so wie wir uns als Jugendliche von der bösen ersten Jahrhunderthälfte abgrenzen wollten, wollen sich Jugendliche heute vom bösen 20.Jahrhundert abgrenzen. Fürchtete ich.

Es scheint aber nicht so zu sein. Vielleicht gibt es da Übertragungen, mit denen ich gar nicht gerechnet habe - geschweige denn sie intendiert. Ist der trotzige Jugendliche der 1970er Jahre dem heutigen vielleicht doch nicht so fern? Und: Haben wir damals alles verstanden, was Eltern und Großeltern andeutend verschwiegen? 'Wir mussten lernen, Spuren zu lesen'  heißt es im Stück. Das müssen heutige Jugendliche mit diesen Geschichten ganz genauso - wenn sie sich darauf einlassen, teilen sie ganz unwillkürlich unsere Nachkriegserfahrung. Und das tun sie - es scheint da  möglicherweise ein wachsendes Interesse an der Geschichte dieser Zeit  zu geben, ein unbefangeneres Interesse, das nicht mehr mit Schuld, Schmerz, Schweigen und Scham der eigenen Eltern zu kämpfen hat, gerichtet nun eher auf die Epoche der Großeltern, mit der schützenden Distanz einer Generation dazwischen.
Auf eine andere Übertragung hat die Münchner Journalistin Sabine Zaplin in einer Vorstellungskritik hingewiesen (selten, dass  ein Kritiker eine Schulveranstaltung besucht!). Ich beginne das Stück ja mit zwei weißen Blättern in der Hand und mit dem Satz: 'Ich habe nichts zu erzählen, ich habe ja nichts erlebt.' Tatsächlich erweist sich das Blatt dann aber nicht als leer - es ist schon so viel vor meiner Geburt mit mir geschehen. Sabin Zaplin formuliert das so: „Ich habe nichts zu erzählen“, denkt der Sohn zu Beginn und ist doch schon mittendrin. (....) So einer ist längst in die Geschichte verstrickt. Genau wie jeder andere. Die jugendlichen Zuschauer spüren das, spüren, dass auch sie der Geschichte nicht entkommen, sie nicht abwählen können." - Wenn das stimmt, kann ich selbst nur staunen. Denn das wäre dann kein kalkulierter Effekt, sondern Folge einer intuitiven Gestaltung. Nun würde ein anderes Rätseln beginnen, nämlich über die Frage, woher diese Intuition kommt. Und ich stehe wieder vor einem weißen Blatt.
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