Schicksalsfragen

In Bagdad lebte einmal ein Seiler, der hatte seine ärmliche Werkstatt am Rand des Bazars ... Zwei Sheikhs kommen vorbei, eine Art Wandermönche, vertieft in ein Gespräch darüber, ob es soetwas wie ein unabwendbares Schicksal gibt oder ob sich da von außen eingreifen lässt. Einer der beiden schenkt dem Seiler 100 Goldstücke - um ihm einen Neubeginn zu ermöglichen und damit auch das Glück auf die Probe zu stellen. Doch der Arme verliert das Geld, und bei einem zweiten Versuch büßt er wiederum alles ein. Es sieht so aus, als sei er zur Armut verdammt. Da schenkt ihm der andere ein Stück Blei, das er auf der Straße gefunden hat ...
Manchmal, so scheint es, liegen Themen einfach in der Luft. Seit Pfingsten leben 100 Flüchtlinge in unserem Heimatort, in einem Notaufnahmelager. Junge Männere zumeist, und viele (wenn nicht alle) haben durch die Flucht versucht, ihrem Schicksal eine Wende zu geben. Etliche Muslime sind darunter, und neben praktischer Unterstützung gibt es reichlich Raum für Gespräche: 'Inschallah' - Wenn wir abgeschoben werden, hat Allah das so gewollt?
Mühsam, auf Französisch und zunehmend auf Deutsch, erleben wir bei vielen eine tiefe Herzensbildung und ein Grundvertrauen in göttliche Führung. Wir hören vom Grauen der Flucht, durch die Sahara, durch Libyen und über das Mittelmeer. Wir erfahren etwas über die Lebensbedingungen in ihrer Heimat - und fragen uns zunehmend, welchem Schicksal wir es eigentlich zu verdanken haben, hier geboren zu sein und hier leben zu dürfen. Und - das bringt der Beruf nun mal mit sich - es werden Geschichten wach, die solche Fragen reflektieren: 'Glückssache' (Blogpost vom 3.1.2015), ''Sfurtuna' (Pechvogel), 'Gottvater und das Schicksal' oder eben die vom armen Seiler, der ein wertloses Stück Blei erhält. Was davon nach diesem sehr besonderen Sommer auf die Bühne kommt, wissen wir  nicht. Es ist  vielleicht gar nicht so wichtig, und liegt es überhaupt in unserer Hand? Immerhin erfahren wir beglückt, wie viele hier doch bereit sind, diesen Menschen zu begegnen und sie helfend zu begleiten. Es sieht so aus, als ändere sich da gerade etwas in unserer Gesellschaft, als ließe sich etwas ändern. Bewegte Zeiten.

Etwas mehr über die Flüchtlinge bei uns im Isartal findet sich hier.

Lebenslinien

Überall auf der Welt finden sich Geschichten, zu denen beim Erzählen gezeichnet (oder besser: gekritzelt) wird, meist einfach nur Striche, Kreise oder Punkte. Daraus ergibt sich am Ende ein Bild, manchmal überraschend, aber oft  'zeichnet es sich schon ab'.
Drawing Stories heißen sie auf Englisch, ritsagor auf Schwedisch - im Deutschen fehlt dafür ein passendes Wort. Kritzelgeschichten? Erzählzeichnen?  Verwandt erscheinen sie den Sandzeichnungen australischer Ureinwohner oder dem knifing der Indianer von der nordamerikanischen Pazifikküste. Aber während es dort meist um elementare Stoffe geht (s. Post vom 10.3.2012 - THE WORLD OF STORY-TELLING), kommen einem die Geschichten hier oft recht banal vor: Ein Mann hört nachts einen Lärm, macht sich auf die Suche nach dessen Ursprung, stürzt in eine Grube, klettert raus, stürzt in die nächste - und so weiter. Schließlich kehrt er erschöpft nach Hause zurück. Bei Tageslicht übersieht er seine Wegspur und stellt fest, dass sich daraus ein Storch geformt hat. 
Der Schriftstellerin Tanja (=Karen) Blixen ist dieser Storch schon in ihrer Kindheit begegnet, und er hat sie tief beeindruckt. Sie schreibt dazu:
Ich bin froh, dass man mir diese Geschichte erzählt hat, und will in der Stunde der Not an sie denken. ... Die Enge, in der ich stecke, das dunkle Loch, in dem ich liege - zu welcher Vogelkralle mag das wohl gehören? Was werden die anderen sehen, wenn die Zeichnung meines Le­bens fertig ist?
Ist das noch banal zu nennen? Reframing heißt so ein sinnbildender Rück- und Überblick im therapeutischen Prozess. Wir haben uns daran gemacht, Ausschau nach diesen Geschichten zu halten, geeignete zu sammeln und zu bearbeiten, manchmal zu reparieren und z.T. neu zu fassen. Ein paar kleine Zwischen-Spiele sind so enstanden, vielleicht Neuzugänge für unsere Theater-Speisekarte, auf jeden Fall können sie in ihrer Einfachheit Anstöße bieten, selbst einen Stift zur Hand zu nehmen und Lebenslinien zu kritzeln.


3 D

'So habe ich einmal ausgesehen?' oder: "Bist das wirklich Du?" - Jeder kennt wohl den Anflug von Rührung beim Anblick eines Kinderfotos, eines eigenen oder dem eines anderen. Ist es die sprichwörtliche 'kindliche Unschuld', die einem da im Bild gegenübertritt, der Ausdruck von Hoffnung und Erwartung? Ganz unwillkürlich vergleicht der Betrachter Vergangenheit und Gegenwart: 'Was von Dir war damals schon sichtbar? Und wer bist Du heute?'  Sehr unterschiedliche Gefühle werden da geweckt.
  In der Straße meiner Kindheit lebte eine Bildhauerin, Eva Brinkmann. Ich war 6 oder vielleicht 7 Jahre alt, als ich ihr Modell stehen durfte - für eine Auftragsarbeit, einen Jungen, der sich über einen Fischteich beugt.
Den Fischteich gibt es längst nicht mehr, aber das Standbild ist heute noch zu sehen, im Innenhof des Evangelischen Krankenhauses in Wesel-Obrighoven. Nachdenklich, etwas verloren steht es da, und kürzlich habe ich es besucht. Oder besser: ich habe mich besucht, mich als 7-jährigen, mich in den damals üblichen Baumwoll-Trainigshosen mit Gummizug. Plötzlich stehe ich mir selbst gegenüber, dem Kind, das ich einmal war, lege ihm den Arm um die Schulter, komme in Kontakt. Ja, Berührung, Rührung - es ist ein wenig wie mit einem kleinen Bruder. 'Was hast Du noch alles vor Dir?' Aufrichten, ermutigen wollte ich ihn irgendwie, ihn an der Hand nehmen und ihm meine Begleitung anbieten. Als wäre er jemals von meiner Seite gewichen. Oder war ich es, der ihn hier hatte stehen lassen?
Die Körperlichkeit erschafft ein 'Du', sie vermag Empathie stärker zu fördern als jede Fotografie. Das gehört sicher auch zu den Wirkungsprinzipien des Puppentheaters, des Spiels mit Puppen überhaupt. Seit wir auf der Bühne so viel mit Papier arbeiten, stellt sich uns immer wieder aufs Neue die Frage: Wie lässt sich auch mit 'flacher' bildlicher Darstellung Empathie wecken? Und wie kann Papier körperlich werden? - Denn davon sind wir überzeugt: dass Zuschauer bei allem Wunsch nach geistvoller Unterhaltung letztlich auch Berührung suchen. Im 'Lob der kleinen Form' ist an anderer Stelle weiteres dazu gesagt. Und einmal mehr sei (fragend) der Kirchenvater Augustinus zitiert: Vollkommenheit liegt nicht in der Stärke der Erkenntnis, sondern im Ergriffensein.
J.Baesecke

Neue Seiten

Höher als der Himmel, tiefer als das Meer - 20 Geschichten aus unserem Bühnen-Repertoire, dazu Hintergründe, Anleitungen und Illustrationen: Soeben ist die Neuauflage unseres Buchs angeliefert worden. Erschienen ist es diesmal im Selbstverlag, und weil die Auflage etwas kleiner ist, mussten wir den Preis neu kalkulieren. Erhältlich ist es ab sofort bei uns - für 25 Euro incl. Versand in Deutschland. 
Wir haben ein paar Korrekturen vorgenommen, ein anderes Papier gewählt und einige der erklärenden Texte überarbeitet  Es wurfe schlussendlich doch etwas mehr Arbeit als wir anfangs dachten. Die Erstauflage ist im Frühjahr 2007 erschienen. Es gibt noch ganze 3 Exempare davon. Nun hoffen wir auf eine ähnliche Resonanz wie vor 8 Jahren - und auf ein schnelles Schwinden der Bücherstapel bei uns zuhause.

Totul bine!

Zum zweiten Mal sind wir nach Rumänien eingeladen, diesmal nach Brașov/Kronstadt, und wie 2012  streifen wir wieder staunend durch eine zugleich fremde und doch irgendwie vertraute Stadt. 'Unter fremden Augen' hieß der Blogpost damals (7.August 2012) - und 'bine' ist eines der ersten Worte, das wir diesmal aufschnappen: gut, OK, jawohl.
Inzwischen hat das Land einen deutschstämmigen Staatspräsidenten, Klaus Johannis, den früheren Bürgermeister von Sibiu/Hermannstadt, und gleich der erste Rumäne, den wir kennenlernen, sagt: 'Wäre Johannis nicht gewählt worden, ich wäre ausgewandert.' Der rumänische Staatspräsident hat ähnliche Machtbefugnisse wie der französische, und wieder sind wir mit der Wertschätzung angeblich typisch deutscher Tugenden konfrontiert, hören, dass die Auswanderung der deutschstämmigen Bevölkerung bedauert wird.
Wir spielen auf Deutsch, für Kindergarten- und Schulkinder. In der Stadt gibt es kaum noch Deutschstämmige - es sind rumänische Kinder. Wir erfahren, dass viele Kinder hier Deutsch lernen, in Mittel- und Oberschicht sei das sehr verbreitet - als eine Investition in die Zukunft. Historischen Ressentiments begegnen wir nicht. Nun, die Zeit ist auch kurz. 
Ernst kommen uns viele Menschen vor, manche auch verschlossen, in Restaurants und Cafés darf geraucht werden (man hat schon fast vergessen, wie das ist) und Händeschütteln scheint überall dazuzugehören. Verfall und aufwändige Restaurierung liegen oft Haus an Haus nebeneinander, die Namen der Ladenketten und die Artikel im Regal sind meist die gleichen wie bei uns. In manchen Straßen fühlt man sich wie in Lutz , der fiktiven Stadt aus dem Film 'Grand Budapest Hotel'. Die vollständig erhaltene Altstadt zieht im Sommer viele Touristen an, Schloss Bran, dem Graf Dracula angedichtet wird, liegt nicht weit. Aber noch ist Vorfrühling, klingend läuft das Tauwasser von den Dachrinnen durch die Fallrohre hinab, ein Klang, der uns auf Schritt und Tritt begleitet. Einmal mehr stellen wir fest, wie viel von einem Land erfährt, wer es nicht als Tourist bereist, sondern dort zu tun hat, und sind darum dankbar für unseren Beruf. Bine!

Das erste Mal

Wir sind eingeladen nach Interlaken, zum ersten Jungfrau-Erzähl-Festival - ein 'geschichtenbuntes Ereignis zu einem typischen Jungfrau-Thema'  (so unsere Gastgeber):  'Das erste Mal'.
Staunenswert ist die Vielfalt, die in so kurzer Zeit in einem sehr dichten Programm erfahrbar wird. Die Frage, ob sich bei einem Zeitraum von knapp 3 Tagen von einem Festival sprechen lässt, stellt sich am Ende nicht mehr - so erfüllt treten wir am Ende die Heimreise an.

Für den Eröffnungsabend sind wir zu den eigenen Anfängen zurückgekehrt ('Das erste Mal!') und haben unsere alte kleine Kofferbühne mitgebracht. Kenner unseres Repertoires werden ahnen, was gespielt werden musste: Der Berg ruft! - unsere Alpenschmonzette über eine Besteigung des Matterhorns. Kann man immer noch spielen, so die allgemeine Resonanz, zumal sich die Erstbesteigung des Matterhorns jetzt zum 150.Male jährt. Die Jungfrau (4158 m) allerdings hüllte sich das ganze Wochenende über in Wolken - hoffen wir also auf eine andere Gelegenheit, sie zu Gesicht und die wunderbaren Erzähler, mit denen wir die Bühne teilen durften, wieder zu Gehör zu bekommen.

Rollentausch

Ein traditionelles norwegisches Märchen: Die Frau ärgert sich über die Geringschätzung, die sie durch ihren Mann erfährt. Sie verabreden, dass sie einfach einmal die Rollen tauschen. Er soll zuhause bleiben, während sie aufs Feld zur Arbeit geht. Für den Mann, soviel sei verraten, endet das Ganze in einem Desaster. Ein überhastetes 'Ich will nur noch schnell ...' setzt immer wieder neue Kausalitäten in Gang, an deren Ende er schließich kopfüber im Grützkessel steckt.
Das Vorantreibende der Handlung gab den Impuls, die Geschichte in Gedichtform zu bringen, mit Anklängen an Rap, an Wilhelm Busch, an lautmalende Balladen. Als der Text fertig war, stand als nächstes die Frage an, ob es dazu noch Bilder braucht, vielleicht Scherenschnitte in einer Art Daumenkino? Nein, war die einhellige Antwort nahezu aller, die den Text zu hören bekamen: Hier ist das Gedicht Form genug; wenn gleichzeitig noch Bilder gezeigt würden, ginge das durch den Rhythmus geweckte und gehaltene Tempo wieder verloren. Außerdem zeigt das Märchen ja auch selbst, wie schwierig es sein kann, zwei Dinge gleichzeitig zu tun.
Also - das Stückchen ist fertig. Eine Frucht eigenen Strohwitwerdaseins - im Vertrauen gesagt.
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The trauerarbeit

Wie lässt sich Vergangenes verarbeiten? Eine Schuld, ein Verlust? Der Gebrauch des Worts 'Verarbeiten' vermittelt leicht den Eindruck, als wäre selbstverständlich klar, was genau damit bezeichnet wird. Ein höchst komplexer Prozess jedenfalls, der sehr unterschiedliche Verläufe nehmen kann, je nach Person und Gegenstand oder Gegenüber.
Papier.Krieg  hat mittlerweile fast 70 Aufführungen erlebt. In vielen Gesprächen danach ging es immer wieder um 'Verarbeitung', um the trauerarbeit. Dabei bildete sich nach und nach eine Art Muster heraus, eine Abfolge von Stufen, die auf und ab gegangen werden können, eine Reihe von Schritten, von Abschnitten, die sich aber immer wieder auch durchdringen können. Und die auch in dieser Abfolge noch viele Fragen offenlassen:
  • Hinsehen was ist (bzw. war). Hinhören und es anerkennen - auch wenn Wegschauen näherliegen mag.
  • Trauern - auch wenn Ablenkung oder Verdrängen von Tränen näherliegen mögen. Es für sich bewerten: Was war falsch? Wäre etwas anderes möglich gewesen?
  • Ordnen, Aufräumen. Einen Sinn suchen: Was bin dadurch geworden? War es vielleicht (so schlimm es war) zu etwas gut?
  • Transformation: Dem Gegenstand eine andere Form geben und ihn darin loslassen, vielleicht in einem Ritual. 'Erlösung' nennt es das Märchen. Kommunikation: Es mitteilen - anstatt es für sich zu behalten. Etwas wieder gut machen - wofür setze ich mich heute ein?
Es fällt sofort auf, dass da vieles für die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegsgeneration schwierig und nahezu unmöglich war, angefangen schon beim Hinsehen, beim Blick zurück. Es wird klar, dass 'Verarbeitung' sehr lange dauern kann.Was einen bei heutigen Kriegen und Konflikten schaudern lässt.

Glückssache

Der Wesir ergeht sich abends im Garten. Er beugt sich über den Brunnenrand - plötzlich gleitet ihm sein Ring vom Finger und fällt in den Brunnen. Da durchfährt ihn ein Gedanke, ein verrückter Wunsch: Wenn der Ring doch nicht unterginge!
So beginnt die arabische Geschichte, die im Weiteren von den Wechselfällen des Glücks erzählt. Kein Faden, ein leuchtend roter Punkt führt durch die Handlung und begleitet den Helden durch die Höhen und Tiefen des Schicksals.

Fast fertig - bald neu im Repertoire!

IN ERWARTUNG

Im April 2007 erschien unser Buch  HÖHER ALS DER HIMMEL,TIEFER ALS DAS MEER  in einer Auflage von 2100 Stück. Beim Verlag ist das Buch längst vergriffen, bei uns zuhause liegen noch 3 Dutzend. Wir haben es in letzter Zeit gar nicht mehr beworben, trotzdem haben wir jedes Jahr noch 30 - 40 Exemplare verschickt.
Und jetzt? Sollen wir es einfach ausgehen lassen oder wagen wir noch einmal eine Neuauflage? Diesmal im Selbstverlag?  Das hieße, noch einmal gründlichst Korrektur zu lesen. Das Layout unter die Lupe zu nehmen. Ein paar Aktualisierungen in Vor- und Nachwort. Alles neu zu kalkulieren: Wenn, dann wird es eine kleinere Auflage, was das Buch im Endpreis teurer machen würde.
Nun, wir haben tatsächlich mit der Arbeit begonnen. Es fühlt sich an wie eine Wiederaufnahme im Theater: die alte Spur noch einmal nachgehen, und wie erfüllt man sie wieder mit neuem Leben? Wenn alles gut geht, dann sitzen wir im Frühjahr wieder auf Bücherstapeln - und freuen uns über jede und jeden, der uns bei deren Abbau hilft.
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